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Der Komet

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Bücher von Freunden lese ich immer mit einer gewissen Bangigkeit: Wenn sie einem nicht gefallen, darf man es ja doch nicht sagen. Es sind ja deren Kinder, und man sagt auch nicht: Was hast du für dumme und hässliche Kinder.

Zwar hat Hannes Stein zwar noch nie ein schlechtes Buch geschrieben; außerdem hat er mir in unseren unregelmäßigen, dafür aber langen Telefongesprächen immer wieder vom Plot seines neuen Romans erzählt, den ich geistreich und faszinierend fand; und dennoch… Nun habe ich am Sonntag in einer einzigen Sitzung die 271 Seiten mit wachsendem Vergnügen ausgelesen, und ich kann sagen: „Der Komet“ begründet das Genre des utopischen Romans neu.

Ein wenig ist die soziale Utopie aus der Mode gekommen. Edward Bellamys „Looking Backward“, der von der Warte des aufgeklärten Jahres 2000 auf seine umnachtete Gegenwart – das Jahr 1897 – zurückschaute, und Theodor Herzls „Altneuland“, der im Jahre 1902 eine zionistische Idealgesellschaft im Jahre 1923 imaginierte – eine Gesellschaft, die stark an das Wien des Jahres 1902 erinnerte, nur mit besserem Wetter und ohne Antisemitismus – waren wohl die letzten bedeutenden Vertreter des Genres. Seit dem Ersten Weltkrieg und erst recht seit dem Zweiten war es schwer, an „Eutopia“, missverstanden als das gute Land, zu glauben; seither bestimmen eher „Dystopien“ die Sicht auf die Zukunft: Man denke an Aldous Huxleys „Brave New World“ und an George Orwells „1984“, an Filme wie „Blade Runner“, „Total Recall“ oder die „Matrix“-Trilogie. 

Aus der Aufzählung wird klar, dass „Dystopien“ – negative Utopien – in der Regel eine kritische Überzeichnung der Gegenwart sind: H.G. Wells’ „Zeitmaschine“ projiziert die Klassengegensätze seiner Zeit in die Zukunft; „1984“ ist eine nur oberflächlich verfremdete Beschreibung der Frustrationen des Autors bei seiner Arbeit für die BBC 1948, „Brave New World“ schildert das Leben in Hollywood in den Jahren vor der Großen Depression.

„Eutopien“ – positive Utopien – hingegen verklären fast immer eine einfachere Vergangenheit, beginnend bei Thomas Morus, der das Genre erfand und im frühkapitalistischen England eine vorkapitalistische, kommunistische Agrargesellschaft imaginierte, verwischen aber meistens sorgfältig diese nostalgische Spur durch allerlei technischen Schnickschnack. Hannes Stein bekennt sich dazu.

Hannes Steins Utopie, angesiedelt im Jahr 2000, ist aber nicht ein ahistorisches Nimmerland, sondern ein kontrafaktisches Waswärewennland: Das Attentat von Sarajewo hat nicht stattgefunden; folglich nicht der Erste Weltkrieg; folglich nicht die Zerschlagung der europäischen Imperien durch Revolutionen und Friedensschlüsse; folglich weder die Revolution Lenins noch jene Hitlers; folglich weder der Zweite Weltkrieg noch der Holocaust; folglich nicht die Entdeckung des Thanatos-Prinzips durch Sigmund Freud.

Das Europa, das Hannes Stein imaginiert, in dessen glücklicher Mitte das Haus Habsburg sein schlampertes, liebenswürdiges, zugleich reaktionäres und fortschrittliches Vielvölkerreich eher beaufsichtigt als regiert, kann seinerseits die Schrecken des 20. Jahrhunderts nicht imaginieren: diese Schrecken quälen nur in Albträumen zwei Patienten, deren Analytiker – der eine in Tiflis, der andere in Wien – darüber brieflich kommunizieren: der eine ist ein Enkel des grusinischen Nationaldichters Soselo; der andere Enkel eines unbedeutenden Wiener Postkartenmalers namens Hüttler.

Der Antisemitismus ist gesellschaftsfähig, aber nicht tödlich; desgleichen das Militär. Europa kommt in dieser Version der Geschichte tatsächlich von der Venus, nicht – wie es leider nach der wirklichen Geschichte des 20. Jahrhunderts der Fall ist – vom Mars. Amerika auch. Das Land ist neutral und weit weg, wissenschaftlich unterentwickelt  und kulturell uninteressant, da es seit den letzten Pogromen ganz zu Beginn des 20. Jahrhunderts keine Massenimmigration verfolgter Juden gegeben hat.

Man spricht – vom Technion in Haifa bis zum Technologischen Institut in Boston – selbstverständlich in der Wissenschaft Deutsch. Und da wir gerade von Venus und Mars reden: Das Buch endet mit dem Ruf „Allahu Akbar!“ hervorgebracht durch eine Delegation bosnischer Muslime, die beschlossen haben, das Ende der Welt in Wien, zusammen mit ihrem geliebten Kaiser zu erleben.

Das Ende der Welt? Ja. Nicht umsonst heißt das Buch „Der Komet“. Dessen angekündigte Ankunft treibt die Handlung – im gemäßigten Tempo, man ist ja in Wien – voran und gibt dem Autor Anlass zu allerlei theologischen Spekulationen. Aber ich will die Schlusspointe nicht verraten.

Unter meinen vielen katholischen Verwandten, Freunden und Ex-Freunden ist der Nichtkatholik Hannes Stein der einzige, der den Katholizismus wirklich versteht und liebt; unter meinen vielen jüdischen Verwandten, Freunden und Ex-Freunden so ziemlich der einzige, der sein Judentum auch religiös lebt und das Judentum versteht; er ist überdies ein vorzüglicher Kenner und Liebhaber William Shakespeares, ohne den man gar nichts versteht, und verbirgt überdies nicht seine Liebe zu Grillparzer, Nestroy und Johann Strauß.

Er ist, mit einem Wort, Österreicher. Nicht in dem banalen Sinn, der heute dem Wort anhängt, sondern im Sinne Joseph Roths. Ein k.k. (nicht k.u.k., das wird im Buch erklärt) Österreicher, kaisertreu, grad weil das Kaisertum etwas Operettenhaftes an sich hat; im Kern antipreußisch, weil dem Preußentum das Operettenhafte abgeht; aber nicht antigermanisch, was in seiner utopischen Welt ein verbreitetes Phänomen ist. Schließlich dominiert das Deutsche Reich, wenn nicht – trotz des Nobelpreises für die Frankfurterin Anne Frank und ihr reiches Lebenswerk – kulturell, so doch wirtschaftlich und wissenschaftlich die Welt. Und so etwas provoziert immer den Neid.

Womit wir in Amerika wären, wo Hannes Stein jetzt als Bürger der USA lebt  und – trotz seiner Mitgliedschaft in der außer ihm eher zum Geifern gegen Linke geneigten „Achse des Guten“ – bei der ersten Präsidentenwahl seines neuen Lebens seine Stimme für Barack Obama abgegeben hat.

Dass er in der Fremde eine so stimmige wie innige Liebeserklärung an die alte Heimat geschrieben hat, verwundert nicht: das passiert oft. Man denke an die Kompositionen der Beatles während ihrer Zeit in Indien, die im „Weißen Album“ kulminierten, einer Liebeserklärung an ihre musikalischen Wurzeln, die so gar nichts Indisches an und in sich hat. Es sind, sagte Friedrich Schiller sehr richtig, nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten; aber Hannes Stein spottet seiner Ketten nicht, gerade weil er ihrer frei ist.

Durch eine ironische Pointe der Weltgeschichte allerdings leuchtet im Habsburger-Reich des 21. Jahrhunderts, dem Nachfolger des Römischen und des Heiligen Römischen Reichs, auch ein Modell dafür auf, was die Europäische Union sein könnte, wenn sie nicht die USA zum Modell nehmen, sich nicht neu zu erfinden versuchen, sich von ihrer Fixierung auf das inkompatible Paar Deutschland-Frankreich lösen und sich darauf besinnen würde, was sie tatsächlich ist: die Fortsetzung Habsburgs mit anderen Mitteln.

Hannes Stein hat einen großen geschichtsphilosophischen Roman geschrieben, der einige Gewissheiten der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts in Frage stellt: Waren dessen Katastrophen das Produkt des Thanatos, des unbewussten Untergangswunsches eines von den Meisterdenkern Hegel, Marx und Nietzsche korrumpierten, gelangweilten Bürgertums (im Roman verkörpert durch den Philosophen André Malek) – oder konnten diese Untergangswünsche nur zur bestimmenden Kraft des 20. Jahrhunderts avancieren, weil ein dummer Zufall – und eine an sich bewundernswerte aristokratische Tapferkeit – dazu führte, dass der Kronprinz Franz Ferdinand nach dem ersten, missglückten Anschlag in Sarajewo seinen Besuch fortsetzte, satt, wie es in der glücklicheren Welt des „Kometen“ der Fall ist, völlig nachvollziehbar zu sagen: „I bin doch ned deppat, i fohr wieder z’haus!“  

 


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